10 Tage, 10 Stunden in Stille meditieren?

Meine sehr persönlichen Erkenntnisse aus 10 Tagen Vipassana Meditation

Kannst du dir vorstellen, 10 Tage lang jeden Tag 10 Stunden in Stille zu meditieren? Ich konnte es nicht, aber es hat mich irgendwie gereizt, nachdem ich während meiner Yogalehrerausbildung über die Vipassana Meditation und den dazugehörigen 10 Tage Kurs gelesen hatte.

Die Vipassana Meditation gehört zu den ältesten Meditationsmethoden Indiens. Buddha entdeckte sie vor mehr als 2500 Jahren wieder und empfahl sie zum einen, um die „Kunst zu leben“ zu lernen und zum anderen als ein universelles Heilmittel gegen Krankheiten. Das Ziel ist die Selbstveränderung durch Selbstbeobachtung.

Ich machte mir natürlich 1000 Gedanken. Schon in der Planungsphase, in der ich mir nicht ganz sicher war, ob ich das wirklich durchziehen sollte, stoß ich auf eine ziemlich schlechte Rezension im Internet. Á la Sektenwirtschaft und Manipulation wurde eine ziemlich miese Erfahrung beschrieben. Aber ich wollte es herausfinden. Ja, was eigentlich? Ich wollte unbedingt wissen, was die Meditation während einer so langen Zeitspanne mit mir machen sollte. Würde überhaupt etwas passieren?

Schon die Anmeldung ist abenteuerlich. Der Anmeldebogen sollte direkt nach Freischaltung des jeweiligen Termins eingereicht werden, da die Termine bereits nach wenigen Minuten ausgebucht sind. Mein Mann und ich hatten nur diesen einen Termin gefunden, an dem ich als Mama Zuhause abkömmlich sein konnte. Als ich dann die Zusage in der Hand hatte, verfiel ich vollkommen in den Modus „einfach alles auf mich zukommen lassen“.

„Wenn wir die Fähigkeit entwickeln können, uns des gegenwärtigen Augenblicks bewusst zu werden, können wir die Vergangenheit als Leitfaden für unser Handeln in der Zukunft nutzen, damit wir unsere Ziele erreichen.“ (S.N. Goenka)

Tag 0: Ankommen

So stieg ich an Tag 0 in den Zug Richtung Triebel im Vogtland, dem Dhamma Dvāra Vipassana Meditationszentrum in Deutschland. Das Ankommen war sehr grau. Eben ein typischer Tag im November. Wobei sich das Zentrum abgelegen auf einem Berg inmitten grüner Natur befindet.  Ich bezog ein schlichtes vier Bett Zimmer und gab jegliche Ablenkung an meine beiden Meditations-Helferinnen ab: mein Handy, Stifte, Bücher, Kalender. Alles in guter Verwahrung bis Tag 10. Sollte ich nun wirklich 10 Tage lang meinen Mann und meine fünfjährige Tochter nicht mehr sprechen?

Am Nachmittag wurden wir mit den Regeln und dem Umgang mit der „edlen Stille“ vertraut gemacht. Keine Kommunikation, keine Notizen, keine Gesten, kein Blickkontakt. Unsere Kommunikation untereinander bestand also im gegenseitigem Tür aufhalten und sich die Schöpfkelle reichen. Alles ohne Blickkontakt und gesenktem Kopf.

Tag 1: Würde

Um 4 Uhr morgens ertönte ab jetzt täglich der gnadenlose Gong. Gefolgt von der ersten 2 stündigen Meditationseinheit im Zimmer oder in der Meditationshalle. 8 weitere Stunden Meditation folgten täglich. Eigentlich war der gesamte Zustand, indem ich mich wiederfand meditativ. Egal, was ich tat. Beim Essen, Zähne putzen oder Spazierengehen, ich war rein mit mir.

Am ersten Tag entschied ich auch meinen BH abzulegen. Wozu mich durch ein Kleidungsstück einengen lassen? So stand ich da: ungeschminkt und in den bequemsten Klamotten, die mein Kleiderschrank zu bieten hatte und hatte doch tatsächlich mit meiner Würde zu kämpfen. Bin ich tatsächlich, allein durch meine Existenz wertvoll? Klingt sehr nach dem Grundgesetz aber weniger nach urbaner, gesellschaftlicher Norm. Ich entschied mich für die Würde und fühlte den Glanz in meinen Augen, mein offenes Herz und meine erhobene Haltung.

Tag 2: Kann nicht aufhören zu denken

Die Aufgabe des zweiten Tages war es, meinen Atem zu beobachten. Kannst du dir vorstellen 10 Stunden lang einfach nur deinen Atem zu beobachten? Ich kann und konnte es nicht. Ich konnte nicht aufhören zu denken und vollen Fokus auf den Atem zu legen. Das funktionierte vielleicht drei, manchmal vier Atemzüge. Dabei waren meine Sinne voll angeschaltet. Den Sitznachbarn riechen, das Räuspern aus der ersten Reihe hören, meine Knie spüren, mich auf das Essen am Mittag freuen. Sollte ich noch einmal auf die Toilette gehen? Ach nein, einatmen – ausatmen – Fokus.

Tag 3: Mein Affe ist immer dabei

Das Meditationszentrum in Triebel war für mich eine Mischung aus Seniorenheim, Gefängnis und Jugendherberge. Während der gesamten Kursdauer durften wir das Grundstück nicht verlassen. Das Gelände war wirklich sehr groß und ich habe mich zu keinem Zeitpunkt eingesperrt gefühlt. Es gab zwei ausgetretene Spazierpfade. Der eine führte um eine Wiese und der andere durch einen kleinen Wald. In ungefähr 10 Minuten hätte man bei normalem, urbanem Schritttempo, beide Wegstrecken hinter sich legen können. So drehte ich ähnlich einem Gefängnishof Runde um Runde. Da die Zeit endlos schien und es kein Ziel gab, verfiel ich in eine Art Schlurfgang, wie man ihn in Seniorenheimen beobachten kann.

Yogis sprechen gerne von einem Affen, den wir im Kopf haben und der uns unermüdlich zu quasselt. Mein Affe war natürlich auch immer dabei. Egal, ob in der Meditationshalle, auf der Wiese oder im Wald. Vorher war dieser ominöse Affe nur ein theoretisches Konzept für mich, jetzt war er immer da und erzählte mir etwas aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft. Der Unterschied war allerdings, dass ich mir meines Affen voll und ganz bewusst wurde.

Tag 4: Ich entscheide, was ich denke

An Tag 4 konnte ich an nichts anderes denken, als an meine Tochter. Ich malte mir aus, dass sie krank sei. Nein, sie hatte nicht nur einen Schnupfen. Meine Gedanken waren sehr konkret: es wurde bei meiner Tochter Leukämie festgestellt und eine der beiden Meditations-Helferinnen würde mir die schlimme Nachricht überbringen. Ich müsse die 10 Tage abbrechen und sofort Nachhause fahren. Die Vorstellung war so konkret, dass ich sie richtig spüren konnte. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen und konnte an nichts anderes mehr denken.

Während einer Pause und einer Spazierrunde um die Wiese fiel mir die Lektion, die ich an diesem Tag lernen sollte wie Schuppen von den Augen: STOPP – ICH entscheide hier, was ich denke. Welch ein Geschenk! Stell dir vor, du darfst jederzeit deine Gedanken und somit deine Gefühle frei wählen!

Tag 5: Gib mir eine Aufgabe, dann kann ich aufhören zu denken

Am fünften Tag wurde die eigentliche Vipassana Technik vermittelt. Ich war so dankbar, endlich den Atem Fokus loslassen zu dürfen und in meiner Meditation „etwas zu tun zu haben“. An diesem Tag vergingen die Einheiten wie im Fluge.

Wie jeden Tag freute ich mich sehr auf das Mittagessen. Bis zu diesem Kurs hatte ich noch nie so gut und so gesund gegessen. Oder bildete ich mir das nur ein, weil mein voller Fokus auf jedem Bissen lag? Das Essen war vegetarisch und eigentlich einfach, schmeckte aber umso besser, weil es eben auf zwei Mahlzeiten reduziert war. Mir wurde sehr bewusst, wie wenig der Körper eigentlich braucht und wie sehr ich mich im Alltag mit Essen vollstopfte.

Tag 6: Ein Mann

An Tag sechs passierte etwas Lustiges. Normalerweise sind die Geschlechter streng getrennt. Die Männer hatten andere Spazierwege, andere Unterkünfte und einen eigenen Essensraum. In der Meditationshalle meditierten die Männer auf der linken und die Frauen auf der rechten Seite, nur von einem Mittelgang getrennt. Und dann passierte es, ich stieß im Gang zwischen unseren Essensräumen mit einem Mann zusammen. Oh mein Gott!… über manche Regeln lässt sich eben schmunzeln.

Tag 7: Schnee

Der siebte Tag war einfach nur schön, denn es hatte über Nacht geschneit und aus dem tristen Grau wurde ein schönes Weiß. Ich genoss jedes Glitzern, das Knirschen, die Flocken auf meinem Gesicht. Alles wurde so intensiv, meine Sinne waren angeschaltet.

Tag 8: Gleichmut

Gleichmut ist ein Weg und kein Ziel. Diese innere Einstellung und die Fähigkeit, vor allem in schwierigen Situationen die Fassung oder eine unvoreingenommene Haltung zu bewahren, sollte ich ab jetzt meinem Lebensweg widmen. Eine tiefgreifende Entscheidung war getroffen.

Tag 9: Meditation ist harte körperliche Arbeit

Wer sagt, dass Meditation nur bloßes rumsitzen sei, der hat keine Ahnung. Ich hatte sogar Muskelkater an den undenkbarsten Stellen, wobei ich meinen Meditationssitz nach einer von mir klar definierten Struktur über den Tag änderte: Meditationsbänkchen, Korkklotz mit Decke drauf und ich erlaubte mir in den Meditationseinheiten auf meinem Zimmer sogar zwei Yin-Haltungen. Du musst dazu wissen, dass jede Art des Sports ebenfalls verboten ist. Ich wurde sogar einmal von einer Meditations-Helferin angemahnt, weil ich mich nach einer längeren Einheit in der Halle zu sehr streckte und reckte. Dieser Rüpel kostete mich den Rest des Tages, weil ich mich über die Helferin ärgerte, mich schämte und mich über mich ärgerte, weil ich mich schämte und ärgerte. Wie war das noch gleich: Gleichmut ist ein Weg?!

Tag 10: „Knoten ist geplatzt“

Der 10. Tag war wie ein Fest. Ähnlich einer Rehabilitation ins wirkliche Leben. Wir durften sprechen und ich zog zur Feier des Tages sogar meinen BH wieder an. Es fühlte sich so an, als sei ein Knoten in meinem tiefsten Inneren geplatzt – volle Freiheit eben, gepaart mit Stolz, Weisheit, Erfahrung und der Vorfreude auf Zuhause.

Eine Randnotiz für alle Mamas:

Nachdem ich mein Handy wieder in den Händen hielt, rief ich, während ich auf meinen Zug wartete, meinen Mann und meine Tochter an. Ich musste vor Aufregung, Freude und Rührung weinen. …und wer wollte mich nicht einmal sprechen, weil die Oma zu Besuch war?

Deine Tina